Mehrsprachigkeit bei Kindern: Spracherwerb und Leseförderung
Kulturelle Vielfalt bedeutet auch sprachliche Vielfalt. Sie sorgt dafür, dass Kinder in der Schweiz mit verschiedenen Sprachen aufwachsen: Einige Familien sprechen zu Hause eine andere Sprache als eine der vier Landessprachen (Deutsch, Italienisch, Französisch oder Rätoromanisch). In anderen Familien haben die Eltern verschiedene Nationalitäten, sodass die Kinder von klein auf zweisprachig aufwachsen. Aus diesen Situationen ergibt sich für die Kinder ein unterschiedlicher Förderbedarf.
In diesem Artikel thematisieren wir, wie Eltern, aber auch pädagogische Fachkräfte die Kinder dabei unterstützen können, zweisprachig aufzuwachsen. Ausserdem sammeln wir konkrete Tipps, die beim Spracherwerb und bei der mehrsprachigen Leseförderung umgesetzt werden können.
Wie lässt sich Mehrsprachigkeit bei Kindern fördern?
Unterschiedliche Herkunftssprachen anzuerkennen und wertzuschätzen, ist in einer Gesellschaft mit kultureller Vielfalt sehr wichtig. Die Verwendung von anderen Sprachen als die Lokalsprache sollte daher nicht unterdrückt werden. Im Gegenteil: Der Stand der heutigen Forschung belegt, dass Kinder mehrere Sprachen erlernen können, ohne dass sie dabei sprachliche Kompetenzen einbüssen. Bestimmte Kompetenzen, die beim Erstspracherwerb aufgebaut werden, können sogar beim Erlernen der Zweitsprache helfen.
Im Kontext von Mehrsprachigkeit bei Kindern wird der Begriff Herkunftssprache oft für die erste erworbene Sprache verwendet, die Kinder in Familien erlernen, in denen nicht nur die Lokalsprache gesprochen wird. Umgangssprachlich wird auch der Begriff „Muttersprache“ verwendet, der jedoch weniger klar definiert ist. Sprachforscher und Pädagogen verwenden daher meist den Begriff Herkunftssprache.
Welche Vorteile hat die Mehrsprachigkeit?
Mehrsprachigkeit bei Kindern zu fördern und zum Beispiel in verschiedenen Sprachen gemeinsam zu lesen und vorzulesen, hat zahlreiche Vorteile. Eine Wertschätzung ihrer Herkunftssprache bestärkt Kinder in ihrer Identitätsentwicklung, kann die Lese- und Lernmotivation steigern und beeinflusst den Zweitspracherwerb positiv.
Auch Kinder, die zu Hause ausschliesslich mit Deutsch, Französisch, Italienisch oder Rätoromanisch aufwachsen, profitieren von dem frühen Kontakt zu anderen Sprachen. So schulen sie nicht nur ihr Sprachverständnis, sondern auch ihre interkulturellen Kompetenzen. In der Schule werden die Kinder meist in der jeweiligen Lokalsprache unterrichtet. Zudem erlernen sie obligatorisch mindestens eine weitere der vier Landessprachen und Englisch.
Generell hat Mehrsprachigkeit für Kinder den Vorteil, dass sie ein ausgeprägtes Sprachbewusstsein entwickeln. Sie sind also in der Lage, über Sprachen und ihren Gebrauch nachzudenken und sich zum Beispiel auch flexibler an bestimmte Situationen anzupassen. Kinder, die zweisprachig aufwachsen, entwickeln früher ein Bewusstsein für folgende Tatsachen:
Nicht jeder Mensch spricht gleich bzw. die gleiche Sprache.
Nicht jeder Mensch verfügt über dasselbe Wissen wie man selbst.
Es ist möglich und oft nötig, die eigene Sprache an den Gesprächspartner und die Situation anzupassen.
Wie können Eltern ihre Kinder dabei unterstützen, zweisprachig aufzuwachsen?
Mehrsprachigkeit bei Kindern kann sich unterschiedlich entwickeln, je nachdem, wie die sprachliche Umgebung in der Familie gestaltet ist:
Variante 1: Kinder, die von klein auf zweisprachig aufwachsen
Wenn Kinder in Familien aufwachsen, in denen ein Elternteil die Lokalsprache und ein Elternteil eine andere Herkunftssprache spricht, werden beide Sprachen häufig gleichzeitig erlernt. Falls dieser Lernprozess bereits vor dem dritten Lebensjahr beginnt, werden beide Sprachen wie Muttersprachen erworben.
Um den Spracherwerb optimal zu unterstützen, sollten Eltern jedoch folgende Tipps beachten:
Experten empfehlen, dass jeder Elternteil in der eigenen Herkunftssprache mit dem Kind sprechen sollte. Somit verwenden beide Eltern die Sprache, die sie sicher beherrschen und in der sie sich am besten ausdrücken können.
Als weitere Empfehlung gilt die Regel „eine Person, eine Sprache“. Beide Sprachen sollten nicht vermischt oder willkürlich gewechselt werden. So kann das Kind die jeweilige Sprache mit einer bestimmten Person verknüpfen.
Das Kind sollte beide Sprachen häufig hören und Zuwendung in beiden Sprachen erhalten. Dadurch hat es sprachliche Vorbilder und eine positive Verbindung zu beiden Sprachen.
Variante 2: Kinder, die erst später eine zweite Sprache erwerben
Wenn beide Elternteile eine andere Sprache als die Lokalsprache sprechen, erlernen Kinder in den ersten Lebensjahren meist nur die jeweilige Herkunftssprache der Eltern. Indem Eltern die sprachliche Entwicklung in ihrer eigenen Herkunftssprache unterstützen, schaffen sie wichtige Grundlagen für das erfolgreiche Erlernen der Zweitsprache.
Die Mehrsprachigkeit bei Kindern kann also gezielt gefördert werden, indem sie ausserhalb des Elternhauses mit der Zweitsprache (in diesem Fall die Lokalsprache) in Kontakt kommen.
Je früher Kinder die Möglichkeit haben, mit der Lokalsprache in Berührung zu kommen, desto leichter wird diese zweite Sprache gelernt.
Kinder sollten im Idealfall häufig die Gelegenheit erhalten, ihre Zweitsprache im Alltag zu erleben und anzuwenden. Das ist zum Beispiel in der Kita, im Kindergarten, auf dem Spielplatz, bei Freizeitangeboten oder beim Spielen mit Freunden möglich.
Dennoch sorgen sich viele Eltern, dass Kinder die verschiedenen Sprachen nicht auseinanderhalten können oder ihre Sprachfähigkeiten in keiner Sprache ausreichend festigen. In der Sprachforschung hat sich jedoch gezeigt, dass in den allermeisten Fällen keine Probleme durch Mehrsprachigkeit entstehen. Auch wenn Kinder zunächst vielleicht beide Sprachen vermischen oder kombinieren, hält dieses Phänomen meist nicht lang an. Bei Kindern, die simultan mit der Lokalsprache und einer weiteren Sprache aufwachsen, treten solche Sprachmischungen für gewöhnlich ab dem Schulalter nicht mehr auf.
Eltern sind für ihre Kinder wichtige sprachliche Vorbilder und sind oft die ersten Personen, die ihnen Freude an der Sprache vermitteln können. Geschichten erzählen, vorlesen, gemeinsam Bilderbücher anschauen oder Bücher lesen sind wertvolle Aktivitäten, die nicht nur die Bindung zwischen Eltern und Kind stärken, sondern auch das Sprachgefühl verbessern und das Lesenlernen erleichtern. Diese Impulse zur Leseförderung sind wichtig, unabhängig von der Sprache, in der sie vermittelt werden.
Wie können Kitas und Schulen die Mehrsprachigkeit bei Kindern fördern?
In Kindertagesstätten und Schulen gewinnt Mehrsprachigkeit immer mehr an Bedeutung. Jedes Kind soll in seiner individuellen sprachlichen Entwicklung gefördert und unterstützt werden – unabhängig davon, ob es einsprachig oder zweisprachig aufwächst. Die Anerkennung und Wertschätzung der Herkunftssprache legen dafür einen wichtigen Grundstein.
Um die Mehrsprachigkeit bei Kindern gezielt zu fördern, können pädagogische Fachkräfte einerseits eine unterstützende Umgebung in der Kita oder im Klassenraum schaffen und andererseits verstärkt die Familien in die Sprach- und Leseförderung einbeziehen:
Die unterschiedlichen Herkunftssprachen können bewusst in den Kita- oder Schulalltag integriert werden. Kinder und Eltern können zum Beispiel dabei helfen, Willkommens-Banner, kleine Info-Plakate oder auch Wegweiser zu übersetzen, sodass die verschiedenen Sprachen auch in der alltäglichen Umgebung angewendet werden.
Um Interesse und Wertschätzung für verschiedene Sprachen zu zeigen, kann es sich auch lohnen, wenn pädagogische Fachkräfte einzelne Worte (z. B. „Guten Tag“, „Danke“) in verschiedenen Sprachen lernen.
Eine kleine Sammlung von (Bilder-)Büchern oder Hörbuch-CDs in den unterschiedlichen Herkunftssprachen ist eine wichtige Ressource. Vor allem Bücher, die den gleichen Text in zwei oder mehreren Sprachen parallel enthalten, sind für die Sprach- und Leseförderung gut geeignet.
Im Idealfall sollten Kinder die Möglichkeit erhalten, mehrsprachige Bücher auszuleihen und mit nach Hause zu nehmen. Dadurch werden wichtige Impulse zum Spracherwerb sowie zur Leseförderung bei den Kindern selbst und in den Familien gesetzt.
Die Eltern von zweisprachig aufwachsenden Kindern können ausserdem dazu eingeladen werden, an Vorlese-Aktionen teilzunehmen und zum Beispiel in ihrer Herkunftssprache Geschichten zu erzählen oder vorzulesen.
Das Vorlesen bzw. gemeinsame Lesen ist zudem wichtig, um Kinder mit einer Zweitsprache (zum Beispiel Hochdeutsch) vertraut zu machen. Altersgerechte und kurze Geschichten, die lebhaft erzählt werden, eignen sich dazu besonders gut.
Eine weitere Methode, die sich für Kinder im Vorschulalter bewährt hat, ist das dialogische Lesen. Durch gezielte Fragen werden die Kinder in die Geschichte eingebunden. Die Anregung zu Gesprächen über die Geschichte wird dabei wichtiger als das reine Vortragen des Inhalts. Am besten lässt sich diese Art des Vorlesens allerdings in kleinen Gruppen umsetzen.
Fazit: Mehrsprachigkeit bei Kindern gezielt unterstützen
Mehrsprachigkeit kann im Kita- und Schulalltag oft eine Herausforderung darstellen, sollte aber gleichermassen als Chance erlebt und genutzt werden. Durch mehrsprachige Angebote und eine Wertschätzung der jeweiligen Herkunftssprachen werden den Kindern wichtige Impulse zum Spracherwerb und zur Leseförderung geboten. Kinder profitieren stets von dem frühen Kontakt zu anderen Sprachen. Es gibt viele Möglichkeiten, Mehrsprachigkeit im Elternhaus und in Bildungseinrichtungen zu fördern. Ein wichtiger Schritt ist dabei das gemeinsame Lesen und Vorlesen in verschiedenen Sprachen.
______________________________________________
Quellen und weiterführende Informationen
https://bilingualfamily.eu/Resources/DE_PEaCH%20for%20educators.pdf
(abgerufen am 29.05.2024)
https://www.biss-sprachbildung.de/wp-content/uploads/2020/03/BiSS-Broschuere-Leseverstehen-Mehrsprachig.pdf
(abgerufen am 29.05.2024)
https://www.duden-institute.de/Blog/Lese_Rechtschreib_Schwaeche/10423_Mehrsprachig_Lesen_und_Vorlesen.htm?nId=1991
(abgerufen am 29.05.2024)
https://www.kindergesundheit-info.de/themen/entwicklung/alltagstipps/entwicklungsschritte/mehrsprachigkeit-unterstuetzen/
(abgerufen am 29.05.2024)
https://www.kindersprachbruecke.de/fileadmin/media/materialien/kita/ERZ_Mehrsprachigkeit_Kita.pdf
(abgerufen am 29.05.2024)
https://www.kreis-viersen.de/system/files/dokumente/ki_fruehe_bildung_mehrsprachige_erziehung_ger.pdf
(abgerufen am 29.05.2024)
https://www.pro-kita.com/padagogik/sprachfoerderung-fuer-kinder-mit-migrationshintergrund/
(abgerufen am 29.05.2024)
https://www.infras.ch/de/projekte/fruhe-sprachforderung-worauf-die-kantone-setzen-und-wo-es-hand-lungsbedarf-gibt/
(aufgerufen am 29.05.2024)
https://www.eda.admin.ch/aboutswitzerland/de/home/gesellschaft/sprachen/mehrsprachigkeit.html
(aufgerufen am 29.05.2024)
https://www.edk.ch/de/bildungssystem/beschreibung
(aufgerufen am 29.05.2024)
https://kjf.tg.ch/fruehe-foerderung/sprachbildung.html/14226#js-accordion_control--05
(aufgerufen am 29.05.2024)
Bildquellen in chronologischer Reihenfolge im Text
Titelbild: Impact Photography – stock.adobe.com
1. Bild im Text: Monkey Business – stock.adobe.com
2. Bild im Text. WavebreakMediaMicro – stock.adobe.com
3. Bild im Text: Nina Lawrenson/peopleimages.com – stock.adobe.com